Spirituosen und Alkohol

Wie viel Thujon braucht es, um Halluzinationen zu erleben?

Saskia Müller

Saskia Müller

Wie viel Thujon braucht es, um Halluzinationen zu erleben?

Vielleicht hast du schon mal einen Film gesehen, in dem ein Künstler im 19. Jahrhundert einen Schluck Absinth trinkt und plötzlich Wände atmen, Farben schreien und Geister tanzen. Der Mythos vom Absinth als grüne Fee, die Halluzinationen auslöst, ist tief in der Popkultur verwurzelt. Aber wie viel Thujon muss man wirklich zu sich nehmen, um etwas zu sehen, das nicht da ist? Die Antwort überrascht - und entzaubert zugleich.

Was ist Thujon und wo kommt es her?

Thujon ist ein natürliches ätherisches Öl, das in verschiedenen Pflanzen vorkommt - am bekanntesten in Wermut, der Hauptzutat von Absinth. Wermut (Artemisia absinthium) wächst wild in Europa und wird seit Jahrhunderten als Bitterstoff in Likören und Medizin verwendet. Neben Wermut enthält Thujon auch andere Kräuter wie Anis, Fenchel und Sternanis, die für den typischen Geschmack von Absinth sorgen.

Thujon ist kein synthetischer Stoff - es ist ein chemischer Bestandteil der Pflanze. In hohen Dosen kann es neurotoxisch wirken, das heißt, es beeinflusst das Nervensystem. Aber das bedeutet nicht, dass es automatisch Halluzinationen verursacht. Die Wirkung ist viel subtiler und hängt von der Menge ab.

Wie viel Thujon ist in Absinth?

Die meisten Menschen glauben, dass Absinth extrem hoch mit Thujon angereichert ist. Das stimmt nicht mehr - zumindest nicht heute. Seit den 1990er Jahren haben die EU und die USA strenge Grenzwerte für Thujon in alkoholischen Getränken eingeführt. In der EU darf Absinth maximal 35 mg Thujon pro Liter enthalten, wenn er über 25 % Alkohol hat. In den USA liegt die Grenze bei 10 mg/L.

Das klingt viel, ist es aber nicht. Ein typischer Absinth aus dem Jahr 2025 hat oft nur 10-25 mg Thujon pro Liter - manchmal sogar weniger. Vergleich: Ein Teelöffel Wermutkraut enthält etwa 10-20 mg Thujon. Um auf die gefährliche Dosis zu kommen, müsstest du mehrere Flaschen trinken - und das wäre nicht wegen Thujon, sondern wegen des Alkohols.

Wie viel Thujon braucht man für Halluzinationen?

Die kurze Antwort: Es gibt keine verlässliche Menge, bei der Thujon allein Halluzinationen auslöst. Studien aus der Neurologie und Toxikologie zeigen, dass die Dosis, die für Halluzinationen nötig wäre, weit über dem liegt, was selbst der stärkste Absinth enthält.

Einige Tierstudien zeigten, dass bei Ratten ab 45 mg Thujon pro Kilogramm Körpergewicht Anfälle und neurologische Störungen auftreten. Für einen 70 kg schweren Menschen wäre das 3.150 mg Thujon - und das nur, um eine toxische Reaktion auszulösen. Ein Liter Absinth mit 35 mg Thujon enthält also weniger als ein Prozent dieser Menge.

Die berühmten Halluzinationen von Van Gogh, Baudelaire oder Oscar Wilde waren höchstwahrscheinlich nicht durch Thujon verursacht. Sie waren das Ergebnis von chronischem Alkoholmissbrauch, Schlafmangel, psychischen Erkrankungen oder dem Verzehr von anderen Substanzen. Thujon allein ist kein Halluzinogen wie LSD oder Psilocybin.

Warum glauben dann so viele, Absinth macht verrückt?

Die Geschichte des Absinths ist eine Geschichte von Angst, Propaganda und Missverständnissen. Im späten 19. Jahrhundert wurde Absinth als „gefährlich“ verunglimpft - vor allem von der Weinindustrie, die um ihre Marktanteile fürchtete. Krankenhäuser meldeten Fälle von „Absinthismus“: Krämpfe, Verwirrung, Halluzinationen. Doch die Symptome entsprachen denen des chronischen Alkoholismus - nur mit einem grünen Farbton.

Die Kräuter in Absinth wurden oft schlecht verarbeitet, und billige Produkte enthielten giftige Zusätze wie Kupfersulfat (für die grüne Farbe) oder Antimontrioxid. Diese Stoffe verursachten Vergiftungen - nicht Thujon. Als der Absinth 1915 in der Schweiz verboten wurde, war das kein Sieg der Wissenschaft, sondern der Moralpanik.

Authentische Zutaten für Absinth: Wermut, Anis und Fenchel auf einem hölzernen Tisch mit einer Glasflasche.

Was passiert wirklich, wenn man Absinth trinkt?

Wenn du einen guten Absinth trinkst, spürst du nichts, das wie eine Halluzination aussieht. Was du spürst, ist:

  • Ein intensiver, anisartiger Geschmack - bitter, süß, krautig
  • Eine starke Wirkung des Alkohols (oft 45-74 % Vol.)
  • Eine leichte, klare Anregung - nicht Betäubung
  • Ein Gefühl von Wachheit, das manchmal als „Trunkenheit des Geistes“ beschrieben wird

Diese Wirkung kommt nicht von Thujon, sondern von der Kombination aus Alkohol und den ätherischen Ölen der Kräuter. Viele Trinker berichten von einer Art „klarer Trunkenheit“ - weniger benommen, mehr präsent. Das ist kein Trip, das ist ein intensives sensorisches Erlebnis.

Was ist mit historischen Absinthen?

Was ist mit den Absinthen aus dem 19. Jahrhundert? Gab es da mehr Thujon?

Einige Analysen von alten Flaschen zeigen, dass der Thujongehalt in echten historischen Absinthen oft zwischen 20 und 100 mg/L lag - manchmal sogar höher. Aber selbst bei 100 mg/L wäre die Dosis für Halluzinationen noch nicht erreicht. Und: Die meisten Menschen tranken nicht ganze Flaschen - sie verdünnten ihn mit Wasser und Zucker, oft über Stunden. Die Wirkung war langsam, nicht plötzlich.

Die berühmten „Absinth-Trips“ waren eher das Ergebnis von Ritual, Umgebung, Erwartung und psychologischer Suggestion. Wer glaubt, er trinke ein magisches Getränk, wird es auch so erleben - ähnlich wie bei einem Placebo-Effekt.

Heute: Ist Absinth noch gefährlich?

Heutiger Absinth ist sicher. Er ist nicht giftig, nicht halluzinogen, nicht verboten. Er ist einfach ein starker, aromatischer Alkohol - wie Gin oder Wodka, nur mit mehr Kräutern. Die einzige Gefahr ist der hohe Alkoholgehalt. Wer zu viel trinkt, wird betrunken - nicht verrückt.

Wenn du Absinth trinkst, tue es bewusst: Verdünne ihn mit kaltem Wasser, lass ihn langsam wirken, genieße den Duft, den Geschmack, die Ritualität. Du wirst keine Geister sehen. Aber du wirst verstehen, warum Künstler ihn liebten - nicht wegen der Halluzinationen, sondern wegen der Klarheit, die er nach dem ersten Schluck hinterließ.

Ein Gehirn in Silhouette, verbunden durch grüne Lichtfäden mit einer Absinth-Flasche — Symbol für Klarheit.

Thujon und andere Kräuter: Was noch wirkt?

Thujon ist nicht der einzige Stoff in Absinth, der Einfluss hat. Anisöl, Fenchelöl und Estragonöl wirken auf das Nervensystem - aber nicht als Halluzinogene. Sie haben eine leichte beruhigende, aber auch anregende Wirkung. Sie können die Wahrnehmung schärfen, nicht verzerren.

Im Vergleich zu anderen Kräuterlikören ist Absinth einzigartig, weil er Wermut enthält - ein Kraut, das bitter und leicht narkotisch wirkt. Aber auch das ist kein Trip. Es ist wie Kaffee: Ein bisschen macht wach, viel macht nervös. Mehr nicht.

Was passiert bei einer Überdosis?

Wenn jemand wirklich zu viel Thujon zu sich nimmt - etwa durch das Trinken von reinem Wermutextrakt - kann es zu Krämpfen, Übelkeit, Erbrechen, Herzrhythmusstörungen und in extremen Fällen zu epileptischen Anfällen kommen. Aber das ist nicht Halluzination. Das ist Vergiftung. Und das ist nicht etwas, das du durch ein Glas Absinth erlebst.

Die Toxikologen der WHO und der EFSA haben 2024 noch einmal bestätigt: Es gibt keinen wissenschaftlichen Nachweis dafür, dass Thujon in den Mengen, die in Absinth enthalten sind, psychotrope Wirkungen hat. Die Halluzinationen sind ein Mythos - kein Fakt.

Was solltest du tun, wenn du Absinth probierst?

  • Trinke ihn nicht als „Halluzinogen“ - trinke ihn als Genussmittel.
  • Verdünne ihn mit Wasser (3:1 oder 4:1), nicht mit Cola oder Saft.
  • Vermeide billige Produkte - sie enthalten oft künstliche Farbstoffe, nicht echte Kräuter.
  • Trinke langsam - nicht in einem Zug.
  • Wenn du dich unwohl fühlst: Es ist der Alkohol, nicht das Thujon.

Der Mythos vom grünen Trip ist schön. Er ist romantisch. Er hat Dichter inspiriert. Aber er ist nicht wahr. Absinth macht nicht verrückt. Es macht nur betrunken - und das ist genug.

Kann man durch Absinth hallucinieren?

Nein, nicht durch den Thujongehalt. Moderne Absinthe enthalten zu wenig Thujon, um Halluzinationen auszulösen. Die berühmten Halluzinationen aus dem 19. Jahrhundert waren auf Alkoholmissbrauch, schlechte Zusatzstoffe oder psychologische Faktoren zurückzuführen, nicht auf Thujon.

Wie viel Thujon ist sicher?

In der EU ist bis zu 35 mg Thujon pro Liter in Absinth erlaubt - und das gilt als sicher. Selbst bei regelmäßigem Konsum bleibt die Dosis weit unter der toxischen Schwelle. Die EFSA hat festgestellt, dass die Aufnahme von Thujon über Absinth für die meisten Menschen keine gesundheitliche Gefahr darstellt.

Ist Absinth heute legal?

Ja, Absinth ist in der EU, den USA und den meisten Ländern legal - solange er den gesetzlichen Thujongrenzwerten entspricht. In Deutschland, der Schweiz und Österreich ist er seit den 2000er Jahren wieder erhältlich und wird von vielen Destillen authentisch hergestellt.

Warum ist Absinth grün?

Der grüne Farbton kommt von den chlorophyllhaltigen Kräutern, die nach der Destillation im Absinth ziehen - vor allem Wermut, Melisse und Anis. Heutige Absinthe nutzen oft natürliche Farbstoffe. Früher wurden künstliche Farben wie Kupfersulfat verwendet - das war giftig, aber nicht für die Farbe verantwortlich.

Ist Absinth gefährlicher als Wodka?

Nicht durch Thujon. Absinth ist oft höherprozentig als Wodka - also gefährlicher wegen des Alkohols. Die Kräuter machen ihn komplexer, aber nicht giftiger. Wer Absinth trinkt, sollte genauso vorsichtig sein wie bei jedem anderen starken Alkohol - nicht mehr, nicht weniger.

Was kommt als nächstes?

Wenn du jetzt neugierig geworden bist, wie Absinth wirklich hergestellt wird, oder wie man ihn richtig trinkt - dann lies weiter über die traditionelle Absinth-Zubereitung. Oder probiere einen echten, handgefertigten Absinth aus der Schweiz oder Frankreich. Du wirst keine Geister sehen. Aber vielleicht wirst du etwas fühlen, das noch seltener ist: Klarheit in einer Welt, die oft zu laut ist.